Die Sozialen Dienste der Stadt Winterthur bestehen aus 5 Hauptabteilungen, die alle Dienstleistungen für Menschen in schwierigen sozialen Situationen anbieten. Unter anderem sind das Sozialhilfeleistungen, Arbeitsintegrationsangebote, Beistandschaften, Auszahlung von Zusatzleistungen sowie Sucht- und Wohnhilfeangebote. Da unsere Klienten oft Mehrfachproblematiken aufweisen, werden sie nicht selten von mehreren Hauptabteilungen gleichzeitig unterstützt. Die Hauptabteilungen selber sind aber in sich sehr geschlossen. Das heisst es gibt wenig koordinierte Fallführung über mehrere Hauptabteilungen hinweg und die Qualität der Zusammenarbeit ist sehr personenabhängig. Da die einzelnen Hauptabteilungen in den letzten Jahren mit sehr viel gesetzlichen und finanziellen Veränderungen konfrontiert waren, blieb wenig Zeit für übergeordnete Themen wie eine koordinierte Fallführung. Andere Städte versuchten in den letzten Jahren komplexe Casemanagement-Systeme aufzubauen, die sich aber in den wenigsten Fällen als praxistauglich und umsetzbar erwiesen. Mir persönlich liegt eine qualitativ hochstehende Klientenarbeit sehr am Herzen und dazu gehört auch eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Hauptabteilungen. Wie aber erreicht man diese? Die mehrheitlich gescheiterten Casemanagement-Beispiele aus anderen Städten legen nahe, dass komplexe, übergeordnete IT-unterstützte Projekte auch nicht das Gelbe vom Ei sind und häufig in der konkreten Umsetzung scheitern. Durch die Auseinandersetzung mit «Lean Change Management» wurde mir einmal mehr klar, dass ich die Antwort auf die Frage «Wie erreichen wir eine bessere klientenbasierte Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Hauptabteilungen» gar nicht wissen muss, sondern in einem ersten Schritt einzelne Hypothesen zusammen mit interessierten MitarbeiterInnen aus den unterschiedlichen Hauptabteilungen erarbeiten und mit wenig Aufwand in zeitlich begrenzten Experimenten überprüfen kann. Was wiederum den grossen Vorteil hat, dass alle eventuell daraus resultierenden Strukturanpassungen eine reale Grundlage haben und in der Praxis eher umgesetzt werden.
Um eine erste Idee dafür zu bekommen, mit welchen operativen Herausforderungen wir als Organisation in Bezug auf eine koordinierte Fallführung wirklich konfrontiert sind, würde sich meiner Meinung nach der Lean Coffee Ansatz eignen. Mir gefällt das offene Format des Lean Coffee sehr gut, es erlaubt jedem, seine konkrete Fragestellung einzubringen und ich als Moderatorin erhalte dadurch einen direkten Einblick in die operativen Fragestellungen. Der organisatorische Aufwand ist zudem überschaubar und die Anforderungen an die Moderation minimal. Die konsequente Visualisierung und Anwendung von „Timeboxing“ verleiht der Herangehensweise trotz der themenoffenen Gestaltung eine adäquate Struktur und verhindert ausufernde Diskussionen, die wir bei diesem Thema sonst garantiert hätten.
Da wir im Gesamtbereich, im Gegensatz zu meiner eigenen Hauptabteilung, wenig Erfahrung mit agilen Methoden haben, musste ich mir überlegen, wie ich die Lean Coffee Idee meinem Chef und meinen Geschäftsleitungskolleginnen am besten verkaufe. Wir haben als Organisation, wie viele andere auch, seit längerer Zeit einen heftigen Projektoverload und sind als Geschäftsleitung ressourcenmässig eher am Anschlag. Es war mir deshalb klar, dass ich die Lean Coffee Idee so schlank wie möglich verkaufen muss, damit nicht das Gefühl einer zusätzlichen «Belastung» entsteht. Gedacht, getan, in der letzten Geschäftsleitungssitzung vor Weihnachten nutzte ich das Traktandum Varia, um auf meine Lean Coffee Idee hinzuweisen und die Erlaubnis abzuholen, einen ersten Versuch mit diesem Gefäss in den nächsten Monaten starten zu können. Nach einem kurzen Aufflackern einiger Bedenken in Bezug auf dadurch entstehende Parallelstrukturen und Ressourcenknappheit, siegte die Neugier und ich bekam den Auftrag, bis zur nächsten GL Anfang Januar ein kleines Konzept für die Durchführung von Lean Coffees vorzulegen.
Die erste Hürde ist also genommen und ich bin überzeugt, dass es mir gelingen wird mit dem ersten Lean Coffee Anfang 2020 zu starten. Da dieses Format auch für mich Neuland ist, werde ich die ersten Versuche sehr niederschwellig gestalten. Inhaltlich liegt der Fokus wie gesagt auf der klientenbasierten Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Hauptabteilungen. Da Lean Coffee eher für kleinere Gruppen geeignet ist und es mir darum geht, einerseits den kollegialen Austausch und die kollegiale Beratung hauptabteilungsübergreifend zu fördern und andererseits aber auch besser verstehen zu können, wo die Herausforderungen und Stolpersteine bei der klientenbasierten Zusammenarbeit wirklich liegen, würde ich in einem ersten Schritt das Thema ganz offen angehen und zwar im Sinne von, «Wer hat Themen und Ideen zur hauptabeilungsübergreifenden Klientenarbeit, die er schon lange mal diskutieren möchte?»
Einladen würde ich grundsätzlich alle Mitarbeitenden mit Klientenkontakt. Damit die Gruppe überschaubar bleibt, werde ich das Lean Coffe im neuen Intranet posten und alle Interessierten bitten, sich via Button kurz anzumelden. Es ist mir bewusst, dass dies der Niederschwelligkeit des Formates widerspricht, im gegebenen Fall scheint es mir aber wichtiger, das Lean Coffee für die ganze Organisation auszuschreiben, als bereits im Vorfeld einzelne Gruppen auszuschiessen. Ich gehe davon aus, dass es eine natürliche Vorselektion über die Ausschreibung im Intranet geben wird (das neue Intranet wird noch wenig genutzt) und sich auch viele Mitarbeitende vom neuen unbekannten Format abschrecken lassen werden. Sollte es widererwarten zu viele Interessenten geben, werde ich das Lean Coffee mehrmals durchführen.
Mit diesem ersten Lean Coffee Versuch erhoffe ich mir aber nicht nur bessere Erkenntnisse über die Herausforderungen in der koordinierten Fallführung, sondern auch erste positive Erfahrungen mit agilen Ansätzen bei uns im Bereich. Wir sind als Bereich noch sehr hierarchisch unterwegs und wenig experimentierfreudig, wenn es um agile Ansätze geht. Die Angst mit einer stärkeren Mitarbeiterbeteiligung noch mehr Baustellen aufzureissen, unkontrollierbare Prozesse auszulösen oder ungewünschte Parallelentwicklungen zu fördern, ist gross. Ein wichtiger Teil bei diesem kleinen Experiment der Lean Coffees wird deshalb die Berichterstattung in der Geschäftsleitung sein. Ganz im Sinne von Lean Change Management, mit kleinen Schritten, iterativ zum Erfolg.